Zum 19. Mal ging die Jahrestagung des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE) über die Bühne. Seit 2001 berät das Gremium die Bundesregierung in Sachen Nachhaltigkeit. Überdies sollen die aktuell fünfzehn Nachhaltigkeitsexperten aus Politik, Wissenschaft und Verbänden den Begriff populär und zum wichtigen öffentlichen Anliegen machen. Tatsächlich ist „Nachhaltigkeit“ in der Zivilgesellschaft mittlerweile wohl angekommen und wird vielerorts verhandelt. Bloß: Die Politik tut sich schwer.
Den stärksten Beifall unter allen Diskutanten und Referierenden bekommt Jakob Blasel für seinen emotionalen Appell. „Unsere Ministerinnen und Minister sind nicht fähig, Klimaschutz zu betreiben. Entweder sollen sie aufhören oder jetzt sofort damit anfangen“, fordert der 19-jährige Aktivist der Fridays-for-Future-Bewegung auf der Jahrestagung des RNE in Berlin. „Wir haben ein Emissionsbudget! Das ist unsere grüne Null! Die müssen wir erreichen! Wir haben keine Wahl! Keine Wahl!“ Nach ihm ist die Bundeskanzlerin zum 14. Mal dran, bei der Konferenz ihres Nachhaltigkeitsrates über die nationale Strategie zu befinden. Wie weit ist Deutschland gekommen mit seinen Zielen bzw. 66 Indikatoren?
Verfehlt, vertagt, neues Ziel
„Bei acht Indikatoren gab es Rückschritte“, räumt Angela Merkel ein. Gänzlich vom Angestrebten weicht etwa der Primärenergieverbrauch ab, genauso wie der Endenergieverbrauch im Güter- und im Personenverkehr, die Adipositasquote sowie der Nitratanteil im Grundwasser. „Hier muss eine Schubumkehr erfolgen“, sagt die Kanzlerin. „28 weitere Indikatoren entwickeln sich in die richtige Richtung. Die Ziele werden aber verfehlt werden.“ Dazu zählen beispielsweise der Verdienstabstand zwischen Frauen und Männern, die Erhöhung des Ökolandbauanteils und nicht zuletzt auch die Treibhausgasemissionen. „2020 werden wir bei 32 oder 33 Prozent CO2-Reduktion landen“, so Merkel. Statt 40 Prozent, wie es das Ziel war. Wichtige Ziele werden also nicht erreicht, wenn die Regierung nicht „konsequent nachsteuere“, drängt der RNE. Zweifellos sei die Nachhaltigkeitsstrategie ein ordentliches Instrument, sagt die RNE-Vorsitzende Marlehn Thieme. Allein, „es fehlt die politische Kraft, die in der Gesellschaft wahrgenommen wird.“ Die Bundesregierung müsse „alles tun, um die von ihr gesteckten Nachhaltigkeitsziele auch tatsächlich zu erreichen“.
Nachhaltigkeit in die Verfassung
Wie jedes Jahr gibt der RNE wieder Ratschläge und empfiehlt der Bundesregierung, „Nachhaltigkeit“ im Grundgesetz zu verankern. „Es sollte dem Gesetzgeber sowohl einen Auftrag zur Gestaltung von Zukunftsfähigkeit als auch eine prozedurale Maßgabe zur Überprüfung und zum Monitoring geben“, heißt es in dessen zehnseitigem Papier mit dem Titel: „Die Strategie muss liefern!“ Diese Idee kam 2016 auf, nachdem der RNE dazu ein Rechtsgutachten bestellt hatte. „Ein Satz würde genügen“, sagte damals Joachim Wieland von der Universität für Verwaltunsgwissenschaften in Speyer, zum Beispiel: „Der Staat beachtet bei seinem Handeln das Prinzip der Nachhaltigkeit.“ Merkel findet, dass „man darüber ernsthaft nachdenken“ müsse: Allerdings sei damit „die Arbeit nicht erledigt. Sie wird vielleicht leichter, sie wird vielleicht die Rechtsprechung verändern, aber sie ist damit nicht erledigt.“
„Wir fangen ja nicht bei Null an.“ Das sei ihre Botschaft, sagt Thieme, die seit 15 Jahren Mitglied im RNE ist und dem Gremium seit 2012 vorsitzt. „Als ich hier anfing, war Nachhaltigkeit ein Unwort“, sagt die 62-Jährige (vgl. UB 11/02, S. 1). Im November wird sie ihr Mandat abgeben. Rückblickend hebt Thieme besonders den Dialog der mittlerweile 30 Oberbürgermeister (plus einen Bürgermeister) hervor, die seit 2010 auf Einladung des RNE über die „Nachhaltige Stadt“ diskutieren (s. UB Okt´18, S. 20).
Unter den Kommunen gebe es auch schon Erfolge zu verzeichnen, betont die RNE-Chefin. Es seien sehr viele Städte und Gemeinden an der Zahl, sagt sie, „mehr als 200 Kommunen“, die sich in puncto Nachhaltigkeit bereits hervortäten. Die dafür eigens neue Stellen in der Verwaltung schafften.
Merkel erwähnt am Ende ihrer Rede „als herausragendes Beispiel“ die Stadt Münster. Seit 2015 gibt es dort ein Dezernat für Nachhaltigkeit (tatsächlich heißt es: Dezernat für Wohnungsversorgung, Immobilien und Nachhaltigkeit). Münster gewann 2018 den Deutschen Nachhaltigkeitspreis, der seit 2012 auch für Städte und Gemeinden vergeben wird. Die bisher neben Münster ausgezeichneten 20 weiteren Kommunen sind gute Beispiele dafür, wie unterschiedlich die Voraussetzungen für eine nachhaltige Entwicklung sein können. Was zählt, ist der Wille. Wenig Resonanz für Nachhaltigkeit gibt es noch in Ostdeutschland. Doch Thieme sieht auch dort mittlerweile „Bewegung“.
Die Kanzlerin betont in Sachen nachhaltige Entwicklung die Vorbildfunktion der öffentlichen Verwaltung. Das seien immerhin 120 Behörden mit 500 000 Beschäftigen, so Merkel. Für die habe man ein Programm auferlegt, das Vorgaben für nachhaltiges Handeln mache. Beispielsweise für Gebäude, in Kantinen, im Fuhrpark und vor allem bei der nachhaltigen Beschaffung. „Da werden insgesamt 350 Milliarden Euro pro Jahr umgesetzt“, sagt Thieme. Deshalb müssten da klare Nachhaltigkeitskriterien rein. „Na ja“, sagt Merkel, „man muss ja bei sich zu Hause anfangen.“ Also dann: Anfangen!
Autor: Tim Bartels, Umweltbriefe