ÖPNV zum Nulltarif? Eine kraftvolle Idee findet das der umweltpolitische SPD-Sprecher Carsten Träger. Für die FAZ wäre es gar eine Revolution. Der Trierer Verkehrswissenschaftler Heiner Monheim bezeichnet es zumindest als einen „winzigen, aber systemverändernden Vorstoß“.
Die geschäftsführenden Ressortchefs aus Kanzleramt, Umwelt- und Verkehrsministerium schlagen für bessere Luft in Deutschlands Großstädten vor, einen kostenlosen ÖPNV zu testen: in Bonn, Essen, Herrenberg, Mannheim und Reutlingen. So steht es in einem Brief an die Brüsseler Kommission, die wegen der anhaltend zu hohen Stickstoffoxidemissionen eine Klage vorm Europäischen Gerichtshof ankündigte.
Städte überrascht
Von diesem „Schnellschuss“ zeigte sich nicht nur der Deutsche Städtetag überrascht, sondern auch die anvisierten Testkommunen selbst. „Wir erwarten eine klare Aussage, wie das finanziert werden soll“, sagt Städtetagschef Helmut Dedy. Der Bund müsse die Kosten tragen, fordern die Oberbürgermeister von Bonn und Essen. In der Ruhrstadt rechnet man mit 100 Mio. Euro jährlich. Für das Gebiet des Verkehrsverbunds Stuttgart (VVS), in dem die 33 000-Einwohner-Stadt Herrenberg liegt, müssten 500 Mio. Euro Ticketeinnahmen pro Jahr ausgeglichen werden. Im Fall eines bundesweiten ÖPNV-Nulltarifs fehlen dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) zufolge rund zwölf Milliarden Euro.
Erst Kapaziäten des ÖPNV ausbauen
In den zwölf Milliarden Euro pro Jahr seien aber noch nicht die Milliardenbeträge für die Infrastrukturinvestitionen berücksichtigt, sagt VDV-Präsident Jürgen Fenske. Bevor man über kostenlosen Nahverkehr nachdenke, so Fenske, „müssen zunächst die Voraussetzungen für einen leistungsfähigen ÖPNV in Deutschland geschaffen werden“. Das heißt: ein Ausbau der Kapazitäten. Mit Hilfe öffentlicher Finanzierung.
Doch offenbar geht es der Bundesregierung keinesfalls um einen flächendeckenden „ÖPNV für umme“. Vielmehr sollten die Kommunen selbst bestimmen, welche Maßnahmen zur Luftreinhaltung sie umsetzen wollen. Doch selbst wenn sie sich für den Gratis-Nahverkehr entscheiden, sehen sich Merkel & Co nicht in der Bezahlpflicht.
Dieselprivileg und Pendlerpauschale streichen zugunsten des ÖPNV
Dabei würden allein durch Abschaffung des Dieselprivilegs bei der Mineralölsteuer sieben Milliarden Euro frei, die man sinnvoller und umweltverträglicher in den ÖPNV stecken könnte, schlägt der Deutsche Naturschutzring (DNR) vor. Damit wären „die aktuellen Einnahmen aus dem Ticketverkauf voll kompensiert“, errechnete der Dachverband der Umweltverbände. Zusätzlich kämen fünf Milliarden Euro zustande, würde der Bund die Entfernungspauschale streichen. Macht zusammen die vom VDV berechneten 12 Mrd. Euro, um den Nahverkehr nachhaltig zu finanzieren.
Tarife reduzieren oder kostenlos am Samstag
Keinen kostenlosen ÖPNV, dafür aber eine flächendeckende Halbierung der Tarife hält der Landesnaturschutzverband Baden- Württemberg (LNV) für machbar, wenn man die Mineralölsteuer um zehn Cent je Liter erhöhte. Das sei nicht viel mehr „als die täglichen oder regionalen Schwankungen der Kraftstoffpreise“, so der LNV. Die Mineralölsteuer liege seit 2003 unverändert bei 66 Ct/l für Benzin und 47 Ct für Diesel. „Dies ist ein verkehrs- und klimapolitisch sowie für die Lebensqualität in Städten falsches Signal“, argumentiert LNV-Vorstand Stefan Frey. Zumal die Tarife im öffentlichen Verkehr meist im Jahrestakt erhöht würden.
Für ein 365-Euro-Jahresticket nach Wiener Vorbild setzt sich Heinrich Strößenreuther von der Initiative Clevere Städte ein. Er hat dazu eine Petition aufgesetzt. Seine Rechnung geht ähnlich wie die des DNR auf: Steuervergünstigungen für Diesel abschaffen und die eingesparten Milliarden in Busse und Bahnen investieren. „Lieber für einen Euro pro Tag Bus und Bahn fahren als für acht Milliarden Euro weiter Fahrverbote riskieren“, sagt Strößenreuther.
Kostenlos an Samstagen ist dagegen bereits der Busverkehr in Tübingen. Und für einen gesamten Gratis-ÖPNV scheint OB Boris Palmer auch gewappnet. Sein Konzept: Rund 9 Mio. Euro Fahrgeldeinnahmen im Jahr müssten ersetzt werden. Ohne Fahrpreis rechnet die Kommune mit einem Drittel mehr Fahrgästen: Zu den heute 20 Mio. Fahrgästen kämen demnach 7 Mio. hinzu. Der Kapazitätsausbau kostete 6 Mio. Euro. „Bislang fehlt uns allerdings die Rechtsgrundlage für die Finanzierung durch eine Nahverkehrsabgabe“, schreibt Palmer in einem Brief an die Bundesregierung.
Autor: Tim Bartels, aus UmweltBriefe, März 2018.
Weiterführende Informationen:
Kostenfreie Busse am Samstag in Tübingen: Ticketfreier Samstag im TüBus | Stadtwerke Tübingen (swtue.de)
Über ein 365-Euro-Ticket in Hessen berichtet die FAZ unter Frankfurter Nahverkehr: 365-Euro-Ticket für alle? (faz.net)